Gibt es erkennbare Wahrheit?

Dr. Christian Bensel im Gespräch mit Hannah Potts

 

Dr. Christian Bensel hat Philosophie und Linguistik studiert und 2006 über den Wandel von Wahrheitskriterien und Wahrheitsstrategien in apologetischen Texten promoviert. Er ist mit “Begründet Glauben” als Apologet in Österreich und international unterwegs.

 

Lieber Christian, wieso hast du dich mit dem Thema “Wahrheit” so intensiv auseinandergesetzt? 

Ehrlichkeit hat mich immer interessiert. Mich interessieren aber auch die philosophischen Fragen: Wie hängen Sprache und Realität zusammen, wie kann man da von Übereinstimmung sprechen?

 

Außerdem bin ich Christ. Deswegen ist für mich die Frage danach, was Wahrheit ist, wichtig. Diese Frage stellt schon Pilatus Jesus im Verhör, nachzulesen in Johannes 18. Die gesamte Bibel behandelt immer wieder die Frage, was wahr ist. 

 

Ich habe mir damals bei der Suche nach einem Thema für meine Dissertation auch gedacht, dass ich philosophische Theorien zwar höchst interessant finde, es mich aber wirklich auch interessiert, wie Menschen im Alltag darüber denken und in Bezug auf Wahrheit handeln. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das viele Leute interessiert. Viele haben mich damals gefragt: “Über was schreibst du deine Dissertation?”

 

Als ich gesagt habe, dass ich über Wahrheit schreibe, ist fast immer etwas ganz Ähnliches passiert. Fast alle Personen haben gesagt: “Wow, das ist ja interessant.” 

 

Dann kam eine kurze Pause, danach haben sie mir ihre Theorie über Wahrheit erklärt. Jeder hat sich irgendwie schon Gedanken dazu gemacht, nicht nur philosophisch gebildete Leute. 

 

Und was hatten die Leute für Wahrheitsmodelle? 

Alle haben etwas in Richtung Korrespondenztheorie vom Stapel gelassen. Das ist die Common Sense Theorie: Dass Wahrheit etwas damit zu tun hat, was da draußen wirklich ist. Es ist die Theorie, dass ich Wahrheit ausdrücken kann und das, was ich sage, mit der Realität übereinstimmt. 

 

Sie ist die älteste Wahrheitstheorie, die man in der Philosophiegeschichte fassen kann, und die am häufigsten vertretene. Das ist meiner Meinung nach die Alltagstheorie über Wahrheit. 

 

Du hast in deiner Dissertation fünf apologetische Texte aus verschiedenen Epochen analysiert, von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. Wie haben sich Wahrheitsbegriffe im Laufe der Zeit geändert? Was war denn der auffälligste Wandel in den Wahrheitsstrategien zwischen den Texten? 

Es war kein großer Wandel feststellbar. Man kann sehr gut nachweisen, dass die Vorstellung, alles sei kulturell bedingt und würde sich mit der Zeit ändern, nicht wirklich feststellbar ist. Im Gegenteil kann man sagen: Vier Strategien waren in allen Texten klar nachweisbar. 

 

Erstens, wenn du durch eine geeignete Methode eigene Informationen über eine Sache bekommen kannst und die Bedingungen der Korrespondenz erfüllt sind, dann kannst du sie wirklich für wahr halten. Wenn du es z.B. selbst sehen kannst, dann ist es so. Das ist die Korrespondenzstrategie. Diese Strategie war wirklich immer vorhanden. 

 

Zweitens –  diese Strategie ist sehr wichtig, wirklich immer dabei gewesen und ich glaube, dass sie manchmal ein bisschen unterbelichtet wird – spielen Autoritätsargumentationen immer eine Rolle. Zum Beispiel: Ich war noch nie in Paris, trotzdem bin ich überzeugt, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist, weil mir viele Leute das gesagt haben. So funktioniert das Leben eben auch, dass man sich auf andere verlässt.

 

Drittens, die Konsensstrategie: Wenn wir miteinander über eine Sache reden und da Begründungen angeführt werden, denen ich zustimmen kann – wenn wir also zu einem rationalen Konsens kommen – dann kann ich diesen Konsens auch für wahr halten. 

Diese drei Strategien habe ich externe Wahrheitsstrategien genannt, weil sie mit anderen Menschen und der Welt da draußen zu tun haben.

 

Viertens gab es noch überall die einfache Kohärenzstrategie: Zu kontrollieren, ob ich unterschiedliche Aussagen widerspruchsfrei in ein Gedankensystem, in eine Story, einordnen kann.

 

Also setzen sich externe Faktoren in der Wahrheitsbestimmung besonders durch. 

Ja, genau. Diese Faktoren kamen in allen Texten vor. Es gibt aber auch noch andere Wahrheitsstrategien, die nicht in allen Texten vorkommen. 

 

Hier gibt es etwa die pragmatische Strategie: Es wird überprüft, was die Konsequenzen davon wären, wenn etwas wahr wäre. Das Ergebnis ist dann auch ein Hinweis darauf, ob das wahr sein kann. Natürlich gibt es immer Gegenbeispiele. Diese Strategie ist heuristisch gedacht, als Suchverfahren.

 

Auch die Verständlichkeits- und Vernunftsstrategie kommt vor. Wir gehen im Alltag davon aus, dass das, was wahr ist, auch irgendwie verständlich ist. Wir nehmen an, dass wahre Dinge nicht mystische Sachen sind, von denen man sagen muss: “Ja, das muss man einfach glauben!” oder: “Das kann man nur nach 20 Jahren Meditation erkennen.” 

 

Dann gibt es noch die Wahrhaftigkeitsstrategie: Du hast zwei Personen, die widersprüchliche Dinge behaupten. Andere Strategien haben dir an diesem Punkt noch nicht geholfen, eine Entscheidung zu treffen. Aber eine Person ist wahrhaftiger als die andere, oder du kannst sie als respektvoller betrachten als die andere Person – aus Gründen, die nicht unbedingt etwas mit der Sache zu tun haben. Deswegen kannst du dem, was diese Person sagt, eher eine größere Wahrscheinlichkeit zumessen. 

 

Die Einfachheitstrategie funktioniert folgendermaßen: Du hast zwei möglicherweise wahre Propositionen, die aber nicht beide zugleich wahr sein können. Aber aufgrund der anderen Wahrheitsstrategien weißt du noch nicht, welche der beiden wahr ist. Dann kannst du die einfachere Theorie mit größerer Wahrscheinlichkeit als wahr ansehen. Das hängt mit der Überlegung zusammen, dass kompliziertere Theorien nicht notwendig sind, um einen Sachverhalt zu erklären, wenn einfachere auch ausreichen.

 

Diese letztgenannten Strategien sind alle probabilistische Wahrheitstrategien: Das bedeutet, sie sind Strategien, die man anwenden muss, weil die anderen nicht ausgereicht haben. Gerade die Einfachheitsstrategie war in den apologetischen Texten nicht stark vorhanden. Aber es hat auch niemand explizit etwas gegen sie gesagt.

 

Alle fünf Texte haben ganz ähnliche Arten, zur Wahrheit zu kommen. Das nennt man doxastische Praktiken: Handlung, die zu einer Überzeugung führen. Alle Texte sprechen davon, dass man etwas sehen oder nachlesen kann. Quer durch die Jahrtausende sind hier gewisse Dinge gleich geblieben: Menschen gehen davon aus, dass sie im Alltag zur Wahrheit kommen können, sie berufen sich auf Autoritäten und Experten oder auf feindlich eingestellte Zeugen. Was sich natürlich im Laufe der Zeit verändert hat, sind die Überzeugungen der umliegenden Kultur, auf die eingegangen wird. 

 

Zum Beispiel haben sich Justin und Augustinus nicht groß auf Physiker bezogen, weil die Physik damals noch nicht so weit fortgeschritten war. Es gab schon Naturphilosophie, aber das war für die Apologeten damals nicht das vorrangige Thema. 

 

Die Texte, die du analysiert hast, sind alle von christlichen Apologeten geschrieben worden. Wie sehr ist der christliche Offenbarungsglaube schon die Grundlage ihres Denkens? 

Ich bin überzeugt, dass es nicht am Einfluss des Christentums liegt, dass die Autoren ähnliche Strategien verwenden. Ganz im Gegenteil, sie sind sich bewusst: “Ich bin Christ, aber du nicht. Du hast ein anderes Weltbild.” Deswegen müssen sie auf Strategien zurückgreifen, die hoffentlich für die ganze Gesellschaft, die sie ansprechen, akzeptabel sind. Weil sie nicht versuchen, ihre eigene Gruppe von einer Sache zu überzeugen, sind gerade apologetische Texte ein guter Forschungsgegenstand. Sie predigen nicht ihrem eigenen Kirchenchor. 

 

 Ich habe bewusst Werke ausgesucht, die den Anspruch haben, Leute zu überzeugen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und Argumente anzuführen, die für sie verständlich sind. So habe ich z.B. bewusst aus dem Mittelalter das Werk von Petrus Venerabilis gewählt. Er hat den Koran auf Latein übersetzt, damit er auf seinen Inhalt eingehen kann. Das war die erste lateinische Koranübersetzung. Er hat sich wirklich bemüht, Muslimen zu begegnen! Deswegen bin ich nicht überzeugt von dem Einwand, dass die Autoren deswegen ähnlich argumentieren, weil sie alle Christen sind. 

 

Gibt es einen Sinn im Leben? 

Wahrheit und Sinn hängen zusammen. Das beginnt damit, dass Sinn mit Bedeutung zusammenhängt, Bedeutung mit Semantik und Semantik wiederum mit Sprache. Sprache hängt mit Wahrheit zusammen. Das ist wieder ein Alltagsphänomen. Alle Menschen wissen, dass es Bedeutung gibt. Wir sprechen ständig. Wir hören Worte und nehmen an, dass wir verstehen, was unser Gegenüber sagen wollte. Trotzdem gibt es Menschen, die sagen: “Das ist alles nur eine Illusion, in Wahrheit bist du nur eine biologische Maschine, in der sich Mechanismen abspielen.” Die Alltagserfahrung widerspricht dem eigentlich. 

 

Das ist der pragmatische Zugang, den du bereits erwähnt hast. 

Genau, die pragmatische Strategie fragt sich: Was sind die Effekte davon, wenn wir etwas für wahr halten? Wenn wir behaupten, es gäbe keinen Sinn, dann hat das keine guten Effekte. Das macht Menschen und Gesellschaften krank. Wir müssen aber gar nicht so weit gehen zu sagen, dass die besten Strategien nicht funktionieren und wir deshalb probabilistische oder weniger überzeugende verwenden müssen. Nein, ich weiß aufgrund meiner Wahrnehmung, dass es in der Welt Sinn gibt. Wie kann jemand behaupten, das sei eine Illusion?

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