Die systemische Psychotherapeutin Irene Penz im Gespräch mit Hannah Potts
Irene Penz ist systemische Psychotherapeutin und seit über dreißig Jahren im psychosozialen Bereich tätig. Sie betreibt einen YouTube-Kanal (Wertvoll – by Irene Penz), auf dem sie praktische Tipps vermittelt, um mithilfe von biblischen Prinzipien ein ganzheitlich erfülltes Leben zu führen.
Liebe Irene, du hast schon viel zum Thema “sich gesund denken” gearbeitet. Was kann man sich unter diesem Konzept vorstellen?
Die Wissenschaft setzt sich schon lange mit der Kraft der Gedanken auseinander. Gedanken per se sind nicht untersuchbar, aber vieles ist an ihren Auswirkungen ersichtlich. Gedanken bilden in einem gewissen Sinne unser Gehirn, denn sie haben ein physisches Substrat, das eine Form hat wie Bäume: Sie bilden Proteinstrukturen im Gehirn. Man nimmt an, dass wir zwischen 60.000 und 80.000 Gedanken pro Tag denken, wobei die Wissenschaft da ein wenig auseinander geht. Gedanken haben eine enorme Kraft: Sie führen zu Emotionen, Emotionen führen wiederum zu Handlungen. Man unterscheidet auch toxische von gesunden Gedanken.
Wie kann man denn den Unterschied zwischen toxischen und gesunden Gedanken feststellen? Sehen die im Gehirn unterschiedlich aus?
Ja, es gibt bildgebende Verfahren. Man nennt das “Funktionelles MRT”. Da kann man tatsächlich erkennen: Die sehen anders aus. Ein gesunder Gedanke ist hell und hat eine
gute Struktur. Er sieht aus wie ein Baum, der Verästelungen hat. Das ist sehr gut abgebildet. Der toxische Gedanke ist zerfranst. Er sieht nicht so schön aus.
Er ist unstrukturierter und chaotischer.
Inhaltlich unterscheiden sie sich grob so: Ein gesunder Gedanke ist einer, der mich, andere und die Welt eher konstruktiv positiv sieht. Also so etwas wie: “Ich schaffe das. Ich bin wertvoll. Mein Nachbar ist ein netter Mensch.” Im Gegensatz dazu sind toxische Gedanken selbst-abwertend, andere-abwertend und lieblos.
Wie kann ich an die Aufgabe herangehen, gesunde anstatt toxischer Gedanken zu denken?
Zuerst muss ich eine Selbstreflexion vornehmen. Wie ist meine Gedankenwelt überhaupt? Ich muss mich damit auseinandersetzen. Dazu kann man seine eigenen Glaubenssätze mal aus Papier bringen. Zum Beispiel: Was geht mir immer wieder durch den Kopf, wenn ich schlecht drauf bin? Dann schreibe ich mir das auf, und dann steht da zum Beispiel: “Ich bin nicht liebenswert.” Dann hinterfrage ich: Wenn ich diesen Gedanken an Bord habe, ist der gesund oder ist der toxisch? Ich glaube, es ist relativ einfach zu erkennen, dass der nicht gesund ist.
Und dann muss ich mich fragen: Ist das wirklich wahr? Natürlich stellt sich da die Frage: Was ist der Maßstab, an dem ich das prüfe? Wir wissen, was der Maßstab ist: Das ist die Heilige Schrift. Und in der Schrift steht sicherlich nicht, dass ich nicht wertvoll bin, sondern das Gegenteil. Deswegen muss ich versuchen, meine Gedanken umzuändern. Es ist ein Prozess, der seine Zeit dauert, Mir etwas Neues anzutrainieren, braucht natürlich seine Zeit. Wenn man unsportlich ist und sportlich werden will, geht das auch nicht in einem Tag.
Dieses Frage danach, ob der Gedanke wahr ist, finde ich interessant. Als Christen haben wir eine riesige Ressource, weil wir sagen können: “Ich weiß wirklich, dass Gott mich wunderbar geschaffen hat, weil das in der Bibel steht.” Wenn du mit Menschen arbeitest, die nicht Christen sind: Wie hilfst du ihnen dann, einen Zugang dazu zu finden, was wahr ist?
Das ist ein bisschen schwieriger, klarerweise, weil Menschen oft gar nicht daran glauben, dass es eine Wahrheit gibt. Man stößt aber immer auf das Gebiet Wert und Identität, das ist unweigerlich so in der Therapie.
Ich sage den Leuten dann: “Wir verlassen jetzt das Gebiet der Psychologie, die hat zu diesem Thema eigentlich nichts mehr zu sagen. Wir kommen jetzt in das Gebiet der Theologie. Wollen Sie das?” Viele Leute sagen dann, dass sie das möchten. Und dann sage ich: “Ich glaube, dass der Mensch einen Wert hat, der ihm von Gott gegeben ist.” Vieles an der Psychologie ist gut, aber sie hat ihre Grenzen.
Wenn du dann mit Christen zusammenarbeitest: Auf Weise rechnest du mit dem Heiligen Geist? Was ist bei Christen das Zusammenspiel zwischen dem Heiligen Geist und unserer eigenen Verantwortung?
Ich glaube, das ist ein Geheimnis, dem wir uns in Demut annähern dürfen. Der Heilige Geist steht uns als Christen zur Verfügung, aber er ist nicht laut. Er ist nicht mit der Brechstange unterwegs: “Jetzt denk dich endlich einmal gesund!” Das macht er nicht. Er ist dezent im Hintergrund. Unser Job ist es, das Tor zu öffnen – das Herz zu öffnen – immer wieder. Und zu sagen: “Gott, komm.” oder “Hilf mir!” oder “Puh, jetzt bin ich schon wieder in einer Sackgasse.” In Wirklichkeit ist es ein ständiger Dialog.
Das muss auch so sein, denn sonst wären wir vermessen. Wir neigen dazu, wie die kleinen Kinder zu sagen: “Das mach ich allein, das mach ich allein.” Aber wir brauchen Gott. Deswegen denke ich, dass es so ist: Ich darf entscheiden und der Heilige Geist kommt sofort und unterstützt mich. Aber ich kann mich natürlich auch versperren. Es gibt in der Schrift genug Stellen, in denen auch Christen sich verhärten oder wieder abfallen. Gott hat uns unglaublich viel Eigenverantwortung gegeben.
Das würde mich dann zu meiner nächsten Frage führen, und zwar über Neuroplastizität: Das Gehirn kann sich ständig verändern. Was bedeutet das für Verhaltensmuster, die seit Jahrzehnten vorhanden sind? Wie kann man die ändern?
Neuroplastizität ist ein extrem spannendes Phänomen. Vor 70 Jahren hat man noch gedacht, wenn jemand einmal einen Unfall gehabt und einen Schaden am Gehirn genommen hat, ist das irreversibel. Mittlerweile weiß man, dass es nicht so ist. Überhaupt nicht. Das Gehirn ist unfassbar.
Das ist das komplexeste System, das man im Universum kennt. Es ist ständig dabei, sich zu verändern. Du lernst bis zur letzten Sekunde, wo du auf diesem Erdboden herum marschierst. Du kannst mit 90 Jahren noch Chinesisch lernen.
Natürlich haben wir alle mehr oder weniger konstruktive Gewohnheiten. Eine Gewohnheit entsteht dadurch, dass ich etwas – Gutes oder Nicht Gutes – immer wieder wiederhole. Ich begleite eine junge Frau, die seit 15 Jahren direkt vor dem Schlafengehen sehr viel Junkfood isst. Wie ändert man das? Wie geht man das an?
Zuerst braucht es die klare Erkenntnis dessen, was ich da mit mir tue: eine Psycho-Edukation. Was macht es mit meiner Verdauung, wenn ich so viel esse? Es ist extrem ungesund. Man könnte meinen, das ist selbstverständlich, aber ihr war das in dem Ausmaß nicht bewusst.
Der zweite Schritt ist: Ich muss mir überlegen, wo ich hin will. Natürlich entsteht ein Loch. Wenn ich etwas nicht mehr tue, was mache ich dann stattdessen? Was mache ich am Abend, statt zu Futtern?
Das muss man dann erarbeiten. Da muss man gemeinsam überlegen: Was kannst du machen stattdessen? Was wäre denkbar? Was ist schwierig? Das ist dann die Arbeit, die man in der Therapie macht. Man überlegt sich: Was ist der erste kleine mini mini mini Schritt, der schaffbar ist. Und dann bricht man das auf machbare Schritte herunter und stimmt das immer wieder ab.
Du musst dir solche Gewohnheiten so vorstellen wie einen schweren Hochseetanker, der seit Ewigkeiten in eine Richtung fährt. Der ist sehr träge, er kann sich nicht in einer Stunde wenden, sondern es dauert viele Stunden. So ähnlich ist es auch mit unserer Gewohnheit.
Ich denke an den Dorn im Fleisch von Paulus – obwohl wir ja nicht genau wissen, was das war. Denkst du, gibt es Schwächen, die wir ein Leben lang nicht loswerden?
Wenn du frühkindliche Traumata hast – nicht nur so ein bisschen schwierige Verhältnisse, sondern wenn da wirklich schwere Vernachlässigung stattgefunden hat – dann bleiben meistens Narben. Ich denke gerade an zwei Frauen, die ich begleite, die von Gewalt über Drogen bis zur Vernachlässigung wirklich das volle Programm durchlebt haben.
Da ist noch immer viel möglich, und mit Gott sowieso, aber so ein Mensch muss härter arbeiten, damit er wirklich stabil aus dem Ganzen rauskommt und sein Leben stabil leben kann. Man kann sich das vorstellen wie am Körper. Wenn jemand einen schweren Verkehrsunfall hat, bleiben auch Narben. Mein Mann hat mit 21 Jahren einen schweren Verkehrsunfall gehabt. Es ist heute noch so, dass man eine riesige Wunde auf seinem Oberschenkel sieht. Aber er ist trotzdem funktionsfähig, kann laufen gehen, Radfahren und alles machen. So sehe ich das. Man hat einfach seine Schrammen abgekriegt, die man meistens spürt, auch auf der Seele. Das ist nicht auslöschbar, aber es ist überschreibbar.